Polizeigewalt in Lützerath – Die Chronik einer Eskalation25 Minuten Lesezeit

Während in Lützerath Besetzer*innen geräumt wurden, fand am 14. Januar eine bundesweite Großdemonstration statt. 35.000 Menschen haben an diesem regnerischen Januartag gegen die Räumung des Dorfes und die Erweiterung des Tagebaus Garzweiler II demonstriert. Die Proteste wurden überschattet durch massive Polizeigewalt. 

Bild: Armilla Brandt

Bundesweite Anreise

Der 14. Januar 2023 ist ein verregneter, stürmischer Tag im Rheinland. Aus dem ganzen Bundesgebiet wurde für die Großdemonstration gegen die Räumung des Dorfes Lützerath mobilisiert. Aus über 50 Städten sind Busse organisiert, allein aus Berlin kommen 9 Busse, aus Hamburg 13, aus Dresden und Leipzig jeweils 4 Busse. Während in der Woche zuvor ein Bus aus Hamburg über drei Stunden an der Abfahrt gehindert wurde, was heftige Kritik am Vorgehen der Hamburger Polizei zufolge hatte, verläuft die Anreise hier weitestgehend störungsfrei. Im Regelfall ist die Anreise zu angezeigten und nicht verbotenen Versammlungen durch das Versammlungsrecht geschützt.

Die Anreise tausender Personen stellt die Organisator*innen der Großdemonstration am Tagebau Garzweiler II vor größere Herausforderungen, handelt es sich doch vor Ort um kleinere Dörfer mit engen Straßen, größere Bus-Parkplätze sind hier nicht vorhanden. Folglich sind bereits Stunden vor Beginn der Großdemonstration die Straßen von Keyenberg, drei Kilometer nördlich von Lützerath gelegen, komplett überfüllt. Vor ähnlich großen logistischen Herausforderungen sieht sich auch der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV), dessen Züge reihenweise überfüllt tausende weitere Personen zur Demonstration transportieren. Halte fallen aus, weil keine weiteren Personen mehr einsteigen können und in Köln muss Augenzeug*innen zufolge ein Regionalexpress ausgetauscht werden, weil die Federung des Zuges aufgrund der Überfüllung beschädigt wurde.

So sind bereits vor 12 Uhr alle Straßen in und um Keyenberg überfüllt. Aus dem “Unser aller Camp”, was seit Beginn der Räumung Lützeraths als Ausweichcamp genutzt wird, führt nur noch ein Weg über Felder und einen Parkplatz heraus, die Zubringer von den Bus-Parkplätzen gehen bündig in die Demonstration über. Aus Mangel an Platz werden die benachbarten Feldwege und Wiesen früh durch die anwesenden Versammlungsteilnehmenden in Anspruch genommen. Sehr zum Missfallen von Polizei und RWE-Werksschutz machen sich hunderte Personen persönlich ein Bild vom Tagebau, die eingesetzten Beamt*innen haben Mühe, die Menschenmasse am Weitergehen in Richtung Tagebau aufzuhalten. Lautsprecherdurchsagen und mündliche Platzverweise vonseiten der Polizei, Unverständnis bei den Demonstrierenden.

Bild: Armilla Brandt

Teilnehmer*innen an Tagebaukante

Während die Polizei noch versucht, alle Schaulustigen wieder in die richtigen Bahnen zu leiten, ist die Demonstration bereits auf dem Weg durch Keyenberg in Richtung Holzweiler. Tausende Menschen drängen sich durch die schmalen Gassen des fast vollständig verlassenen und größtenteils durch RWE aufgekauften Ortes. Die Menschenmassen suchen sich auch abseits der eigentlichen Versammlungsroute ihren Weg, das Tagebauvorfeld ist mit tausenden Menschen gefüllt. Die Polizei stellt ihre anfänglichen Bemühungen, die Menschen zurück zur eigentlichen Versammlungsroute zu drängen, erfolglos ein, Einsatzkräfte werden näher an den Lützerath umgebenden Doppelzaun gezogen.

Bild: Tom Richter


Nachfolgend passiert vieles gleichzeitig. Während die Ersten bereits an der Bühne der eigentlichen Abschlusskundgebung oder gar schon kurz vor dem Zaun um Lützerath angekommen sind, laufen die Letzten gerade erst in Keyenberg los. Tausende Personen stehen jetzt an der Tagebaukante zwischen Keyenberg und Lützerath, unten stehen mehrere Dutzend private Sicherheitskräfte von RWE um einen Kohlebagger herum. Man hört immer wieder Sprechchöre aus verschiedenen Richtungen, an der Kante gibt es erste Rauchtöpfe und Feuerwerk.


Erst eine, dann weitere Personen wollen sich den Tagebau offenbar näher ansehen und rutschen die Abbruchkante runter in die Grube. In diesem Bereich ist es zwar nicht allzu steil, der konstante Nieselregen gepaart mit starkem Wind macht die Bodenschichten allerdings auch nicht gerade stabiler. Nachdem sich die Personen einen Überblick vom Tagebau gemacht und ein Stück vor dem eintreffenden RWE-Werksschutz weggelaufen sind, klettern sie mit vereinten Kräften und Unterstützung anwesender wieder aus dem Tagebau heraus. Die Menschen ziehen insgesamt langsam weiter in Richtung Lützerath.

Die Polizei reagiert mit Gewalt

Ungefähr 300 Meter vor dem (sehr gut bewachten) Zaun um Lützerath versucht die Polizei, die zulaufenden Demonstrierenden mit einer losen Polizeikette am Weitergehen zu hindern. Die anwesenden Einsatzkräfte sind in der deutlichen Unterzahl und versuchen diese durch Drohungen mit Schild und Schlagstock auszugleichen. Vor der Polizeikette stehen Menschen aller Generationen, der Unmut über Räumung und Polizeieinsatz ist groß. Für einige Zeit stehen sich Polizei und Protest gegenüber, direkt neben mir spricht ein älterer Mann mit einem Beamten, warum er hier die Profite von RWE schütze. Der Polizist lässt ihn wissen, dass er eigentlich auch für den Erhalt des Ortes ist. Warum er dann hier stehe und nicht seinen Dienst verweigere, weiß der Beamte dann nicht zu beantworten.

Bild: Armilla Brandt


An mehreren Stellen hat die Polizeikette dermaßen große Lücken, dass Personen hindurchschlüpfen können, die Polizei beginnt Pfefferspray gegen sie einzusetzen. Einzelne Personen werden angegriffen und mit dem Schlagstock am Weitergehen gehindert, während direkt daneben nahezu sekündlich größere Gruppen unbehelligt vorbeilaufen. Minutenlang versucht die Polizei vergeblich, mit Schlagstock-Schlägen und Pfefferspray-Einsatz ihre Stellung zu halten, die gut einen halben Kilometer lang über das gesamte Feld reicht, obwohl das offensichtlich ein Kampf auf verlorenem Posten ist. Auch auf anwesende Demo-Sanitäter*innen wird wenig Rücksicht genommen, es gibt bereits die ersten Verletzten. Die Polizeikräfte wirken sichtlich überfordert und planlos, man hat wohl nicht mit so vielen Menschen gerechnet.

Bild: Rio Turner


Da keine weiteren Einheiten zur Unterstützung dazu kommen, gibt die Polizei ihre “Kette” auf und zieht sich schließlich in Gruppen zurück. Alle, die es bisher noch nicht durch die Kette geschafft haben, laufen jetzt weiter in Richtung Lützerath. Unter ihnen zahlreiche Familien, Rentner*innen und junge Menschen.
Auf dem Weg nach Lützerath werden einzelne Rauchtöpfe und Feuerwerk gezündet. Der “Landgewinn” der Demonstrierenden wird von den verbleibenden Aktivist*innen im Dorf mit Feuerwerk begrüßt.

Bild: Tom Richter


Ungefähr 50 Meter vor dem Zaun versucht die Polizei, ihre Stellung zu halten. Der Zaun ist ein doppelreihiger verstärkter Bauzaun, welcher durch eine enge Reihe Polizeifahrzeuge und dahinterstehende Wasserwerfer geschützt wird. Effektiv kaum zu überwinden, würde man meinen. Die Polizei versucht trotzdem, die anströmenden Menschenmassen mit Gewalt auf Abstand zu halten.
In Gruppen rennt die Polizei immer wieder mit Schlagstöcken voran in die Menschenmasse hinein und versucht diese damit zu zerstreuen und zurückzudrängen. Diese merkwürdig erscheinende Taktik, welche bei der Polizei als “Sprinträumung” bezeichnet wird, ist kaum erfolgreich, auch weil die Demonstrierenden mittlerweile in bis zu zwanzig Reihen hintereinanderstehen. Die Geländegewinne der Polizei sind minimal und werden sofort wieder zurück “erobert”, den exzessiven Schlagstockeinsatz der Polizei beantworten einige Personen mit geworfenen Erdklumpen oder Farbbeuteln.

Polizist*innen stecken im Schlamm

Die Menschen bilden eine dichte Kette, welche die Polizei immer wieder versucht aufzubrechen. Die Auseinandersetzungen – das ZDF wird sie später mit Szenen aus “Herr der Ringe” vergleichen – sind dem matschigen Untergrund nicht zuträglich. In ihrer schweren Montur haben hunderte Beamt*innen mit dem Schlamm zu kämpfen. Die meisten Beamt*innen sind an mindestens einem Körperteil mit fruchtbarem Löss-Boden bedeckt, aus Richtung des Protests kommt Schadenfreude. An Helm, Visier oder Schild kleben zuvor angeflogene Schlammbrocken, die durch den Regen in Ihrer Konsistenz vergleichbar mit Butter sind. An dieser Stelle tritt auch ein gewisser “Mönch” in Erscheinung, dem der Schlamm nichts auszumachen scheint und Beamt*innen in den Schlamm schubst.

Bild: Tom Richter

Die Polizei versucht weiterhin, die Personen mit Gewalt zurückzudrängen. Immer wieder kann beobachten werden, wie Demonstrierende mit Schlagstock oder Faust auf Kopfhöhe geschlagen werden. Es wird immer wieder Pfefferspray gegen den Wind eingesetzt, mehrere Journalist*innen sowie dutzende Polizeikräfte bekommen etwas davon ab. Mehrere Personen gehen zu Boden, inmitten des Ganzen liegt eine Person bewusstlos im Schlamm. Umstehende versuchen sich um sie zu kümmern, die Polizei weicht schließlich ein Stück zurück. Die Person wird von einem Beamten hochgezogen und hinter die Ketten gebracht. Ein Journalist muss die Person schließlich weiter zum Polizeikrankenwagen bringen.

Bild: Dani Luiz


Kurze Zeit später beruhigt sich die Lage etwas, die Polizei steht in einer Kette der Masse der Protestierenden gegenüber. Weitere Verletzte werden von Demo-Sanitäter*innen und auch einigen Polizei-Sanitäter*innen versorgt. Die Polizei hat ihre Taktik geändert, wodurch der Protest etwa für die nächste halbe Stunde vergleichsweise statisch wird. Aus Protest gegen das gewalttätige Vorgehen der Polizei knien sich Personen vor die Polizeikette.


In Richtung Tagebaukante hat die Polizeikette ein größeres Loch, weswegen Personen bis auf den Erdwall am Zaun stehen. Kurze Zeit später führt die Polizei einzelne Personen ab, um sie hinter die Polizeikette zu bringen. Nachdem die Versuche, die Menschenmassen auf Abstand zu halten, gescheitert sind, zieht sich die Polizei auf den Erdwall vor dem Zaun zurück. Die Protestierenden nehmen den gebotenen Raum gern an, ein Teil verlagert sich entlang des Zauns weiter nach Süden, wo sie ebenfalls einer dichten Polizeikette gegenüber stehen.

Bild: Dani Luiz

Wasserwerfer gegen den Wind

Die Lage wird eher statisch. Am nördlichen Ende des Zauns an der Kante, wo die Polizei zuvor einzeln Menschen weggebracht hat, setzt die Polizei mehrfach den Wasserwerfer ein, hat ihre Einsatzplanung allerdings ohne Berücksichtigung der Windrichtung durchgeführt. Auch der Vollstrahl des Wasserwerfers schafft es kaum bis zu den Protestierenden und das Wasser landet überwiegend auf den eigenen Polizeikräften.

Bild: Armilla Brandt


Diese Einsatztaktik wird die Polizei trotz gleichbleibender Windrichtung und -stärke noch mehrmals wiederholen, mit entpsrechend ähnlichem Ergebnis. Immer mal wieder ändert die Polizei ihre Aufstellung rund um den Feldweg und das Tor.
Zunächst wird der Wall neben dem Feldweg sehr rabiat geräumt, kurze Zeit später ziehen sich die Beamt*innen wieder aus dem Bereich zurück. Das Vorgehen der Beamt*innen ist nur eines von vielen Beispielen, das fragwürdige und möglicherweise unverhältnismäßige Gewaltanwendung der Polizei zeigt.


Während auf der einen Seite Musik gespielt und Demosprüche gerufen werden, zeichnet sich die Einsatztaktik der Polizei hier vor allem durch das Hochhalten von polizeilichen Gerätschaften wie Schlagstock und Pfefferspray aus. Große Geländegewinne gibt es nicht mehr, dennoch wird immer wieder Pfefferspray auch gegen den Wind eingesetzt. Die Beamt*innen besprühen sich teilweise gegenseitig, auch Journalist*innen werden getroffen.

Bild: Dani Luiz


Kurz nach 17 Uhr trifft nach und nach angeforderte Unterstützung ein. Die Polizei bildet eine Doppelkette, vorn steht jetzt eine Einheit der sächsischen Bereitschaftspolizei mit Teleskopschlagstöcken in der Hand. Einzelne Menschen, die im Schlamm zwischen Polizei und Protest sitzen, werden jetzt unter Anwendung “unmittelbaren Zwangs” zurück in die Menschenmenge befördert. Einigen eingetroffenen Beamt*innen sieht man die Vorfreude über die bevorstehende Räumung an. Das bayerische USK, was für eine eher rabiate Vorgehensweise (auch gegen Journalist*innen) bekannt ist, ist mittlerweile auch eingetroffen.

Bild: Rio Turner

Zahlreiche Verletzte

Gegen 17:30 Uhr beginnt die Polizei das Feld unter massiver Gewaltanwendung in Richtung der Straße L12/Keyenberg zu räumen. Dabei kommen wieder Schlagstöcke und Pfefferspray zum Einsatz. Mit Taschenlampen im Stroboskop-Modus wird versucht, den Protest zurückzudrängen. Wieder wird hauptsächlich auf Kopf und Oberkörper geschlagen, während die Personen in den ersten Reihen praktisch zwischen der Polizeikette und hinteren Reihen eingeklemmt sind. Teilweise drängt die Polizei von drei Seiten zur gleichen Zeit. Aus der zweiten Reihe wird “unmittelbarer Zwang” angewendet, während die erste Reihe der Polizist*innen kontinuierlich weiter drängt.

Bild: Rio Turner


Durch die Räumung des Feldes werden mehrere Personen verletzt, mindestens eine Person verliert das Bewusstsein. Während die Demo-Sanitäter*innen um die bewusstlose Person knien und sie behandeln, müssen sie eine Gruppe von Beamt*innen erst anschreien, bis diese einen Krankenwagen anfordern. 

Dort, wo die Polizei die Menschen hintreibt, hatte die anrückende Verstärkung zuvor ihre Autos abgestellt. Bis die Polizei wieder an ihren Autos ist, wurden diese beklebt, besprüht, mit Schlamm beschmiert, die Spiegel abgetreten und die Luft aus den Reifen gelassen. Wieder an ihren Fahrzeugen, versuchen die Beamt*innen durch Präsenz weitere Beschädigungen zu verhindern.


Die Situation beruhigt sich langsam wieder, je näher alle der Straße L12 kommen. Von dort aus laufen die meisten ehemaligen Demonstrationsteilnehmer*innen zurück nach Keyenberg, wo Camp und die Anlaufstelle für Shuttle zu den umliegenden Bahnhöfen ist. Aus nicht bekannten Gründen werden auf dem Weg nach Keyenberg mindestens zwei Personen festgenommen. Der direkten Konfrontation mit umstehenden Aktivist*innen können die gut 30 anwesenden Polizeikräfte nur durch offensives Auftreten und sogenannte “Sprinträumungen” entkommen, es fliegt Schlamm. Als „Antwort“ auf die Festnahme wird aus umstehenden Gittern eine Barrikade auf der Straße errichtet. Diese räumen zunächst Polizist*innen aus NRW, aus Niedersachsen und schließlich das bayerische USK wieder weg.

Bild: Armilla Brandt


Der Tag endet in Keyenberg mit ungewöhnlich belebten Straßen und einem umherfliegenden Polizeihubschrauber.

„Lützerath Lebt“

Für viele Demonstrant*innen blieb das Bild einer gewaltvoll agierende Polizei an diesem Tag hängen. Doch es zeigte sich nicht nur, wie rabiat die Polizei auch gegen Klimaaktivist*innen vorgeht, sondern auch, welche Macht eine große Masse an Menschen gegen die Polizei besitzt. Immer wieder mussten Polizeikräfte vor den Demonstrant*innen zurückweichen.
Lützerath ist mittlerweile geräumt und abgerissen, doch der Kampf der Klimaaktivist*innen wird weiter gehen. Vor allem wird sich der Protest weiterentwickeln, hin zu mehr Militanz, Sabotage und Zivilem Ungehorsam.
In diesem Sommer hatte Ende Gelände bereits Sachbeschädigung und Sabotage in ihren Aktionskonsens aufgenommen. Begründet werden solche Aktionsformen mit der wenigen Zeit, die unsere Gesellschaft noch besitzt, um der Klimakrise aktiv etwas entgegenzusetzen. Lützerath wird in diesem Kampf als ein bedeutendes Symbol im Gedächtnis bleiben.

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