Lützerath ist ein Dorf im Rheinischen Kohlerevier. Geht es nach dem Energiekonzern RWE heißt es bald: Lützerath war ein Dorf im Rheinischen Kohlerevier. Das Dorf soll, wie bereits der unmittelbare Nachbarort Immerath, für den Braunkohleabbau abgerissen werden. Die Umsiedlung der Bewohner*innen begann im Jahr 2006 und wurde im Oktober diesen Jahres endgültig abgeschlossen.
Man könnte meinen, jetzt wäre die Bahn frei für den Energiekonzern, das Dorf dem Erdboden gleich zu machen.
Doch ein weiteres Dorf, das inmitten der Klimakrise für den Braunkohleabbau eines Energiekonzerns abgerissen werden soll?! Das stößt bei zahlreichen Bewohner*innen und Klimaaktivist*innen auf starken Widerstand.
Seit Jahren entwickelt sich Lützerath, von den Aktivist*innen oft als „Lützi“ bezeichnet, zu einem Zentrum der Proteste der Klimagerechtigkeitsbewegung in ganz Deutschland.

Mit der dauerhaften Besetzung des Dorfes haben die Klimaaktivist*innen einerseits einen Raum für den Widerstand gegen klimaschädliche Industrien und andererseits eine Möglichkeit für das Leben eines herrschaftsfreien Miteinanders geschaffen. Seit Mona Neubauer, Wirtschaftsministerin Nordreinwestfahlens, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und der Energiekonzern RWE am 04. Oktober diesen Jahres den Abriß des Dorfes ankündigten, um die darunterliegende Braunkohle aufgrund der aktuellen Energiekrise zur Energieproduktion zu nutzen, sehen sich die, das Dorf derzeit bewohnenden Aktivist*innen, einer ständigen Räumungsgefahr ausgesetzt.


Am 01. Dezember stimmte der Deutsche Bundestag über den Entwurf des Gesetzes zur Beschleunigung des Braunkohleausstiegs im Rheinischen Revier ab. Von 736 anwesenden Mitgliedern des Parlaments stimmten 523 für den vorgelegten Gesetzesentwurf und damit für den Abriss von Lützerath. Damit ist das Ende des besetzten Dorfes politisch beschlossen. Das Land NRW und die Bezirksregierung Köln haben erste rechtliche Schritte eingeleitet, um RWE bei der Räumung zu unterstützen.
Bereits Ende November hatte Herbert Reul, Innenminister Nordrhein-Westfalens, einen großen Polizeieinsatz angekündigt. Der Polizeipräsident von Aachen schloss jedoch einen Räumungsbeginn noch in diesem Jahr aus.
„Am Ende muss Lützerath leer sein, und das geht nur mit einem Gesamteinsatz, bei dem erstens die Barrikaden beseitigt, zweitens die Personen verbracht, drittens alle Häuser abgerissen und die Bäume gerodet werden – also die Besetzungsinfrastruktur beseitigt wird“
Herbert Reul (CDU)

Der Tagebau
Das Dorf Lützerath steht direkt neben der Kante des Tagebaus Garzweiler 2, dessen Betriebsfläche 35 km2 umfasst. Insgesamt 6 Schaufelradbagger tragen hier jährlich rund 30 Millionen Tonnen Braunkohle ab, die anschließend über ein Netz von insgesamt 85 Kilometern Bandanlagen zum nahegelegenen Braunkohlekraftwerk Neurath zur Verbrennung transportiert werden.

Im Boden sollen sich noch etwa 1,2 Milliarden Tonnen Braunkohle befinden. Davon plant der Energiekonzern RWE, noch 900 Millionen Tonnen bis zum Jahr 2030 abzutragen. Der Kohleausstieg sollte eigentlich zu einer Reduktion des Kohleabbaus und damit zu weniger Emissionen führen. Jetzt wird jedoch eine größere Menge Braunkohle als bisher in kürzerer Zeit genutzt.
Und das, obwohl wir uns inmitten der Klimakrise befinden und alle weiteren Emissionen fatale Folgen für Natur, Mensch und Umwelt herbeiführen werden.
Wir bewegen uns aktuell auf eine Erwärmung weit über 1,5°C hin und viele der angestrebten Klimaziele werden voraussichtlich verfehlt.

Der Tagebau mit seinen bis zu 120 Meter tiefen Schluchten verschlingt Wälder und lässt durch Abpumpen den Grundwasserspiegel sinken, was fatale Folgen für angrenzende Ökosysteme haben kann. Doch nicht nur aus diesem Grund regt sich massiver Widerstand. Der Kohleabbau zerstört auch zahlreiche Dörfer und damit teils wichtige kulturelle Güter.
Ursprünglich sollten neben Lützerath noch fünf weitere Dörfer Venrath, Kauhausen, Wockerath, Kückhoven und der Mönchengladbacher Stadtteil Wanlo abgerissen werden. Statt der geplanten 66 km2 wird das Abbaugebiet bis 2030 jedoch auf 48 km2 begrenzt. Dadurch bleiben die fünf neben Lützerath ursprünglich vom Abriss bedrohten Dörfer erhalten.
„Alle Dörfer bleiben“
Seit Jahrzehnten gibt es im Rheinischen Kohlerevier Proteste gegen den Abbau von Braunkohle und das Abbaggern von den Dörfern. Zahlreiche von Zwangsumsiedlungen bedrohte oder betroffene Menschen versuchen, sich gegen den Energiekonzern RWE zu wehren. Als Reaktion auf die Zerstörung der Dörfer gründete sich das Bündnis „Alle Dörfer bleiben“.
Das Bündnis fordert unter anderem die Einstellung des Abbaus von Braunkohle, die Einhaltung des 1,5°C Ziels und den Erhalt aller von Abriss bedrohten Dörfer.
Bundesweite Aufmerksamkeit erregte der Protest vor allem durch den Hambacher Forst, einen Wald an der Tagebaukante, der jahrelang von Klimaaktivist*innen besetzt wurde
Bei einer Großdemonstration unter dem Motto „Hambi Bleibt!“ hatten sich im Oktober 2018 etwa 50.000 Menschen versammelt. Spätestens seitdem wird der Tagebaualltag im Rheinischen Revier von Protesten der gesamten Klimabewegung begleitet.

Seit 2021 entwickelt sich das bedrohte Dorf Lützerath immer mehr zum aktuellen Protestmittelpunkt der Anti-Kohle-Bewegung. Für die Aktivist*innen symbolisiert das Dorf die 1,5°C-Grenze, sie sagen „bis hier hin und nicht weiter“. Neben Anwohner*innen der umliegenden Dörfer stellen sich immer mehr Besetzer*innen dem Abriss des Dorfes entgegen, indem sie sich den ehemaligen Dorfraum nehmen und dort eine eigene Gemeinschaft aufbauen.
Das Dorf – eine gelebte Utopie
Während vor den Toren Lützeraths die Klimakatastrophe wortwörtlich immer näher rückt, passiert innerhalb der Dorfgrenzen etwas, das Viele für unmöglich halten. Ein autonomes Dorf, ein anarchistischer Traum, eine Utopie. Im Dorf gelten klare Regeln: Wenn du möchtest, dass etwas passiert, dann mach es! Wenn du Ideen hast, anderen helfen kannst oder auch mal keine Lust hast, etwas zu tun, dann „do your thing“.
Dabei legen die jetzigen Bewohner*innen der Strukturen jedoch Wert darauf, dass keine anderen Menschen gefährdet werden und das eigene Handeln keine ungewollten Konsequenzen nach sich zieht.


In Lützerath sagt kein Mensch Anderen, was sie zu tun oder zu lassen hätten. Höchstens gibt es die Frage, ob sie bestimme Dinge tun können. Sollte man aus unterschiedlichsten Gründe keine Kapazitäten haben, wird niemand dafür verurteilt oder zu einer Erklärung gezwungen.
Hilfsbereitschaft und der Wille, irgendwo mit anzupacken, entsteht meist automatisch. Überall gibt es Möglichkeiten zu helfen. Durch die Initiative von Einzelpersonen oder Kleingruppen und der Mithilfe von zahlreichen Menschen funktioniert das gesamte Leben im Dorf. Man vertraut aufeinander, denn ohne das Anpacken Vieler, kann die Gemeinschaft nicht funktionieren.

Die Aufgaben, die die Aktivist*innen übernehmen können, sind vielfältig und werden täglich am schwarzen Brett ausgehängt. Es können beispielsweise freie Schichten an verschiedenen Stellen übernommen werden. So muss jeder Eingang zum Dorf von mehreren Menschen besetzt sein, um Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen und möglicherweise störende Personen am Eindringen zu hindern. Auch die Küfa (Küche für Alle) braucht viele helfende Hände, um die Versorgung des ganzen Dorfes aufrecht zu erhalten.
Außerdem gibt es verschiedene Anlaufstellen für unterschiedliches Handwerk und sollte es diese noch nicht geben, dann besteht immer die Möglichkeit, eine neue Anlaufstelle zu errichten.
Zusätzlich zu den handwerklichen und organisatorischen Aufgaben bieten viele Aktivist*innen oder Gruppen Workshops zu bestimmen Themen an. Von politischer Theorie bis hin zu Kletterworkshops ist alles möglich.


Gewohnt wird in Lützerath überall, wo Platz ist. Es gibt mehrere besetzte Häuser, für die ein Hygiene-Konzept gilt, das Schuhe ausziehen und Maske tragen beinhaltet. Neben Schlafplätzen in Baumhäusern gibt es Stellflächen für Wohnmobile, Autos und Zelte.
Zahlreiche Hallen bieten ausreichend Platz für die Umsetzung eigener Ideen.
Es werden Transparente gemalt und Tripods (Vorrichtungen aus 3 Baumstämmen, die Räumungen erschweren sollen) gebaut. Zusätzlich dazu ist genügend Platz zum Skaten und Klettern vorhanden.
Für die nötige Unterhaltung sorgen außerdem regelmäßige Konzerte.



Ist den Aktivist*innen der Alltag zu viel oder zu laut, bieten Ruheräume auf dem gesamten Areal einen Rückzugsort. Auch für Kinderbetreuung ist im Dorf gesorgt.
Zusätzlich zu Awarenessräumen gibt es Schutzräume für verschiedene marginalisierte Gruppen: drogenfreie Zonen, Safer Spaces für Flinta* (Frauen, Lesben, Inter, Non-binary, trans, Agender) und BIPoC (Black and Indigenous People of Colour) sowie Schutzräume für Minderjährige.
Diese Rückzugsorte sind für die Aktivist*innen elementar, damit sich alle Menschen an diesem Ort wohl fühlen können.

Auch eine eigene Corona- und Krankenstation ist Teil des Dorfes. Neben Corona-Testzentren an den zentralen Punkten des Dorfes ist sie ein Teil des Hygienekonzepts.
Nicht nur die Testzentren, auch zahlreiche andere Bereiche des Dorfes sind auf Unterstützung von außerhalb angewiesen. Verschiedenste Menschen kommen mit Spenden aller Art vorbei, um die Aktivist*innen im Dorf zu unterstützen. Äpfel, Betten oder sackweise Beton, alles wird abgeladen und sortiert. Jede Spende findet irgendwo eine Verwendung.


Lützerath hat sich zu einer kleinen autonomen Gemeinschaft in einer großen kapitalistischen Welt entwickelt. Viele Menschen wohnen im Dorf nur für kurze Zeit, andere haben hier ihr Zuhause gefunden. Nicht nur die Umwelt ist in Lützerath durch den Abriss durch RWE bedroht, sondern nun auch dieses einmalige Miteinander.
Mehr als nur Klimaschutz
Es lässt sich also im Alltag des Dorfes beobachten, dass nicht nur die Klimakrise im Mittelpunkt des Protest steht, sondern genauso die Gesellschaft, die die Entstehung der Klimakrise überhaupt ermöglicht hat. Den Besetzer*innen und Bewohner*innen geht es um den Kampf gegen die Profitorientierung großer Konzerne, hierarchische gesellschaftliche Mechanismen und Unterdrückungssysteme, kurz gesagt um eine Kritik am gesamten kapitalistischen System. Das radikale Infragestellen der Klimapolitik der amtierenden und vorherigen Regierungen geht einher mit einer Kritik unserer Wirtschaftsweise und unseres Umgangs mit der Natur.
Wie eine Pressesprecherin betonte, gehe es um die Bekämpfung der Ursachen der Klimakrise. Das Ziel: Klimagerechtigkeit und eine freie Gesellschaft ohne Konkurrenz und Diskriminierung.


Die Aktivist*innen kämpfen für den Erhalt Lützeraths, aber auch für die Überwindung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die den Braunkohleabbau inmitten der Klimakrise überhaupt ermöglichen.
Mit ihren Körpern und zahlreichen Barrikaden wollen sie eine mögliche Räumung des Dorfes verhindern. Beispielhaft sagen sie: „Hier verläuft die 1,5 Grad Grenze“.