Der „Leipziger Kessel“11 Minuten Lesezeit

Triggerwarnung: Polizeigewalt, sexualisierte Gewalt 

Zu zahlreichen Diskussionen führte die mittlerweile als „Leipziger Kessel“ bezeichnete Einkesselung von zahlreichen Demonstrant*innen durch die Polizei am 3./4. Juni auf dem Heinrich-Schütz-Platz in der Leipziger Südvorstadt. Nachdem die Situation am Alexis-Schumann-Platz eskaliert war, trieb die Polizei vermeintliche Störer*innen und Straftäter*innen auf dem Heinrich-Schütz-Platz zusammen.
Dort wurden laut Polizei 1000 Menschen für teilweise über 11 Stunden festgehalten und unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs sowie schwerer Körperverletzung angezeigt. 

Bild: Flora Lukas

Bereits vor Ort zeigte sich, dass sich im Kessel zahlreiche Minderjährige und an den Ausschreitungen nicht Beteiligte befanden. Auch Personen, die nicht in das Demonstrationsgeschehen involviert waren, wurden durch die Polizei eingekesselt. Wer im Kessel landete und wer nicht, geschah dabei nach Beobachtung von Journalist*innen vor Ort gänzlich willkürlich. Die Bildung des Kessels war teilweise mit massiver Polizeigewalt verbunden. Mehrere Teilnehmer*innen berichteten von Schlägen, Tritten oder Verletzungen durch den Polizeieinsatz. 

Im Kessel wurde der Zugang zu grundlegender Versorgung teils erschwert oder nicht gewährleistet. So berichteten Betroffene, dass sie ihre Notdurft in einem Busch verrichten mussten. Auch die Versorgung mit Wasser und Essen konnte nur punktuell und nicht ausreichend durch Spenden und ehrenamtliche Sanitäter*innen gewährleistet werden. Mit Einbruch der Nacht sanken die Temperaturen deutlich. Bei unter 10 Grad mussten die festgehaltenen Personen weiter im Kessel der Polizei ausharren. Sanitäter*innen verteilten Rettungsdecken, die zumindest Einigen gegen die Kälte halfen. 

Bild: Dani Luiz

Nach Aussage der 17-Jährigen Martha (Name geändert), die selbst im Kessel war, wurde die medizinische Versorgung von Verletzten durch die Polizei behindert. „Eine Person ist ohnmächtig geworden, doch auch die durfte den Kessel nicht verlassen“, sagte sie im Gespräch mit dem MDR Sachsen. Die Polizist*innen wären tatenlos geblieben, nur die Sanitäter*innen seien zu Hilfe gekommen. Der Polizei sei alles „komplett egal“ gewesen, „sie haben überhaupt nichts getan und waren irgendwie sehr herablassend zu allen anderen“.

Nachdem die Polizei bei Bildung des Kessels bereits mit massiver Gewalt vorgegangen war, kam es auch in der Nacht beim Herauslösen Einzelner zu willkürlicher Polizeigewalt. Obwohl Personen bereit waren, freiwillig zu gehen, wurden Andere unter Anwendung von Schmerzgriffen abgeführt. Betroffene berichteten außerdem, dass einzelnen Personen an den Haaren gezogen wurde.

Bild: Flora Lukas

Bei den Durchsuchungen und in der Gefangegensammelstelle kam es laut Betroffenen zu sexualisierter Gewalt. 

“Ich musste mich dort bis auf die Unterhose komplett ausziehen, mich mehrmals um mich selbst drehen und noch einmal abtasten lassen. Die Polizistinnen schauten und fassten mir dabei in die Unterhose und zwischen die Beine. Als ich anfing zu weinen, durfte ich mich wieder anziehen“

So eine 16-Jährige in einem Erfahrungsbericht beim zivilgesellschaftlichen Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“


Zusätzlich wirft der Umgang mit Minderjährigen im Kessel Fragen auf. Die Polizei behauptet gegenüber der Presse, Minderjährige seien „priorisiert“ behandelt worden, was sich jedoch nicht mit den Beobachtungen von Journalist*innen vor Ort deckt. Bis zum Ende der polizeilichen Maßnahmen am frühen Morgen waren Minderjährige vor Ort. In einem Erfahrungsbericht, der auf der Website des zivilgesellschaftlichen Aktionsnetzwerks „Leipzig nimmt Platz“ veröffentlicht wurde, schreibt eine 16-Jährige: “Es wurden einfach an einer Stelle die Leute zufällig ausgewählt und rausgezogen. Die haben überhaupt nicht gefragt, wie alt die Leute sind“.
Außerdem seien Eltern nicht zu ihren Kindern gelassen worden. Auch nach Rückfragen erhielten sie keine Auskunft. 

Bild: Rio Turner

Über die Zahl der Eingekesselten gab es eine Fehlkommunikation der Polizei. Zuerst veröffentlichte die Polizei Sachsen auf Twitter, dass etwa 300 Personen eingekesselt seien. Später wurde von 1000 Personen gesprochen, was für Verwunderung sorgte, denn 300 oder 1000 Personen in einem Kessel, während die Polizei die gesamten Teilnehmenden auf 1500 schätzte, ist doch ein gewaltiger Unterschied.
Die Polizei stellte in einer Medieninformation klar, dass sich im Buschwerk des Parks deutlich mehr Menschen aufhielten, als zu Anfang gedacht. Mit dieser Begründung verstärkt sich der Verdacht, dass der Kessel vollkommen willkürlich gezogen wurde. 

Bild: Dani Luiz

Verschiedene Akteur*innen stellen den Kessel mittlerweile rechtlich infrage. Gegenüber Monitor äußerte sich der Rechtswissenschaftler Clemens Arzt, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin: „Es gibt nicht die rechtliche Möglichkeit, 1000 Menschen einzukesseln und festzunehmen und für Stunden ohne hinreichende Versorgung festzuhalten, weil es sein könnte, dass sie an Straftaten beteiligt waren”. Das Vorgehen der Polizei am 3. Juni hält er für „rechtlich nicht haltbar“.

Offene Briefe an Polizei und Stadt

Mittlerweile richten sich mehrere Offene Briefe an die Stadt, den Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) und die Polizeidirektion Leipzig. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen fordern darin eine Aufarbeitung des „Leipziger Kessels“.

Zahlreiche Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen kritisieren in einem Brief, der auf der Website des „LinXXnet“ veröffentlicht wurde, dass die Leipziger*innen am Wochenende um den „Tag X“ in ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt wurden. Auch das Recht auf freie Meinungsäußerung sei ihnen genommen worden: „Innenministerium, Polizei und Landesamt für Verfassungsschutz haben ein massives Bedrohungsszenario konstruiert und die Stadtverwaltung hat willfährig unsere Freiheit geopfert“.

„Wir appellieren an die Stadtspitze, das Vorgehen am letzten Wochenende kritisch zu reflektieren, uns als gleichwertigen Teil dieser Stadt wahr- und ernstzunehmen und auf Pauschalisierungen und Kriminalisierung des so wichtigen antifaschistischen Engagements zu verzichten!“

Offener Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung

Die „Eltern gegen Polizeigewalt“ richten sich in einem weiteren Offenen Brief an den Polizeipräsidenten der Polizeidirektion Leipzig, Rene Demmler. Dieser hatte das Vorgehen der Polizei am 3. Juni verteidigt und als alternativlos bezeichnet. „Stärke zu zeigen kann auch deeskalierend wirken“, sagte er gegenüber der Leipziger Volkszeitung.

Bild: Dani Luiz

„Polizist*innen fanden Gefallen daran Kindern, junge und erwachsene Menschen an sehr intimen Stellen, massiv zu berühren und sogar mit Taschenlampen in deren Unterwäsche zu leuchten. Weiblich gelesene Menschen wurden bei der Durchsuchung teilweise nur an Brüste und Po gefasst. Das ist an Demütigung bis hin zur Perversität nicht mehr zu überbieten.“

Offener Brief der Eltern gegen Polizeigewalt

Die „gewaltsamen, sexualisierten und demütigenden Maßnahmen“ im Kessel seien nicht verhältnismäßig und hätten keinen Bezug zu den vorgeworfenen Straftaten, vielmehr hätte das Vorgehen „einzig und allein der Einschüchterung“ gedient.
Die „Eltern gegen Polizeigewalt“ werfen der Polizei vor, dass die Polizeigewalt „gewünscht und geplant“ gewesen sei.
Abschließend formulieren die Verfasser*innen des Briefs die Forderung an Rene Demmler, als Polizeipräsident verantwortlich für den Polizeieinsatz: „Bitte, treten Sie zurück“.

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