Es ist größtenteils bewölkt, aber trocken und nicht allzu kalt in Schleife, einem kleinen Ort in der Lausitz, den die meisten Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz heute wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. In Bussen und Zügen reisen sie Stück für Stück aus dem gesamten Bundesgebiet an – Klimaaktivist*innen verschiedener Couleur, Familien aus der Region, sorbische Interessenvertreter*innen und viele andere. Alle sind sie gekommen, um für einen schnelleren und sozial gerechten Strukturwandel in der Lausitz zu demonstrieren. Doch diese Forderung kommt bei vielen Anwohner*innen nicht an, was sich im Laufe des Tages noch mehrfach zeigen wird. Ein Bericht von der „Kohleausstieg Ost“-Demonstration am 7. Mai.

Schon bevor der Großteil der Demoteilnehmenden angekommen ist, kommt es laut übereinstimmenden Berichten von Augenzeug*innen zu einem schockierenden Vorfall an den Bahngleisen des Bahnhofs Schleife: Anwohnende rufen über die Gleise angereisten Klimaaktivist*innen zu: „Die Juden verbrennen wir zuerst, dann kommt ihr! Ihr seid die Ersten, die wir nach Auschwitz fahren, wir verbuddeln euch im Tagebau!“. Auf Nachfrage will die am Bahnhof präsente Bundespolizei zwar „verbale Auseinandersetzungen“ beobachtet haben, allerdings ohne den Wortlaut zu hören.

Kurz nach 12:30 Uhr wird dann von einer Aktivistin von Fridays for Future Dresden die Versammlung offiziell eröffnet, nachdem sich der Bahnhofsvorplatz merklich gefüllt hat. Zu Livemusik tanzend und bei Reden fahnenschwenkend präsentiert sich dem Ort eine bunte Menge von etwa 700-800 Menschen, die gekommen sind, um die Einhaltung des 1,5°C-Ziels und die damit verbundene schnelle Einstellung des Braunkohleabbaus im wenige Kilometer südlich gelegenen Tagebau Nochten zu fordern. Verbunden werden müsse der Kohleausstieg zwingend mit einem sozialgerechten Strukturwandel in der Region.
Mehrfach betonen Redner*innen, dass sie genau das nicht wollen, was ihnen von skeptisch bis feindlich gesinnten Anwohner*innen vorgeworfen wird: ihnen ersatzlos ihre Lebensgrundlage nehmen.




Auch die sorbische Volksvertretung „Serbski sejm“ ist mit eigenem Banner und sorbischen Fahnen vertreten. Sie kämpfen unter anderem für den Erhalt der vom Kohleabbau betroffenen Dörfer wie Mühlrose, die zu den letzten Orten überhaupt zählen, an denen die sorbische Kultur und Sprache noch eine Überlebenschance hat.

Nach einer Stunde geht es dann los: Der Demonstrationszug nimmt Aufstellung, um auf den Tagebau Nochten zuzulaufen. Das Tagebauvorfeld gehört dem Energiekonzern LEAG, bis kurz davor soll aber die Demoroute führen. Mit lautstarken Sprüchen startet der Aufzug: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“, skandieren die überwiegend jungen Menschen im Frontblock und der Rest der Demonstration hinter ihnen stimmt ein.
Vorneweg läuft ein großes Aufgebot an Bereitschaftspolizei und Journalist*innen. Die mediale Aufmerksamkeit ist groß, genauso wie die Präsenz von Menschen aus der Region, die zu Fuß, auf Motorrädern oder vom eigenen Grundstück aus die Demonstration aus sicherer Entfernung verfolgen.

Zwischendrin werden in der Demonstration radikalere Parolen laut, die von vielen, aber nicht allen Teilnehmenden geteilt werden: „A-Anti-Anticapitalista!“ und „One solution – Revolution!“ tönt es durch das sonst sehr ruhige, ja aussterbende Schleife. Denn die ländliche Lausitz leidet seit Jahren unter Abwanderung. Eine diverse Jugendkultur oder großartige Perspektiven sucht man hier vergeblich. Der ungewöhnliche Lärm sorgt auch dafür, dass eine Anwohnerin mit ihrem sichtlich gestressten Hund an ihr Tor tritt. Gegenüber uns äußert sie, wir sollen bitte schnell weitergehen und sie würde gern ihren Hund auf die Demonstration loslassen, da sie nicht verstehe, „warum fremdes Volk hier hinkommt“.
Auf der anderen Seite scheint sie nicht bereit, das „fremde Volk“ nach den Gründen für ihr Kommen zu fragen. Glücklicherweise macht sie ihre Drohung nicht ernst und der Hund bellt nur noch etwas länger die Vorbeiziehenden durch den Zaun hindurch an.

Auch die darauffolgende Zwischenkundgebung wird von verschiedenen Seiten beargwöhnt: zwei junge Männer trinken in sicherer Entfernung ihr Bier. Einer meint zum anderen: „Das kannste dir nicht anhören“, als eine weitere Rede eine sozialgerechte Transformation und Wiederbelebung ihrer Region fordert. Trotzdem hören beide weiter zu, teile ihrer Freundesgruppe kommen später sogar mit Vertreterinnen der „Omas gegen Rechts“ ins Gespräch. Von den Teilnehmden der Demonstration werden die Redebeiträge und Livemusik mit viel Applaus quittiert, es herrscht ausgelassene Stimmung.

Nach erfolgreicher Zwischenkundgebung geht es weiter, in den Wald. Am Ende der Asphaltstraße im Wald findet die Abschlusskundgebung mit neuerlichen Redebeiträgen, Livemusik und auch einem selbstgeschriebenen Gedicht einer alten Sorbin statt. Parallel gibt die „KüFa“ (Küche für Alle) Essen an alle Hungrigen aus, bis es alle ist. Durch den Wald ist ein Weg von Absperrband gesäumt, welchen Einige entlangspazieren.

Um 16 Uhr startet eine spontan angemeldete Rückbringer-Demonstration zum Bahnhof Schleife für diejenigen, die pünktlich abreisen müssen. Die Abschlusskundgebung läuft währenddessen weiter, die Stimmung nach wie vor sehr gut. Doch plötzlich die Nachricht: Die Spontandemonstration wurde angehalten, es gibt wohl eine Maßnahme. Wir eilen mit vielen anderen die Straße Richtung Schleife zurück. Am Waldrand steht dann die Spontandemo, ein Teilnehmer fehlt. Er steht hinter einer Wand aus grimmig dreinblickenden Polizist*innen und Wannen, muss dort seine Jacke ausziehen und sich durchsuchen lassen. Wir erfahren, dass er wohl aus einem anderen Kontext wiedererkannt wurde und auf einer Fahndungsliste stand. Kurz nach 17 Uhr ist die Person dann wieder frei und die Abreise kann endlich weitergehen. Erschöpft treten alle den Heimweg an.

Die Demonstration war ein kräftiges Zeichen. Auf den drei stationären Kundgebungen wurden unglaublich viele Reden von verschiedensten Akteur*innen aus der Region, aktivistischen Gruppen und der Wissenschaft gehalten, um darzulegen, warum man sich versammelt hat. Ob die Worte oder die Klänge der Musik vielleicht zu einigen Anwohner*innen durchgedrungen sind, bleibt abzuwarten.